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Der Hirsch mit dem goldenen Geweih

Vor langer, langer Zeit lebte in einem Zarenreich im dichten Tannenwald ein bildschöner, kapitaler Hirsch mit einem prächtigen Zwölfender-Geweih, das war aus purem Gold. Dieser Hirsch war der Beschützer der Armen und Schwachen - ob Mensch, ob Tier - und er wurde im Volk verehrt wie ein Heiliger.

Als der majestätische Hirsch eines Tages friedlich auf einer Waldlichtung äste, tauchte am Waldesrand eine Räuberbande auf, die es auf das wertvolle Geweih des Hirsches abgesehen hatte. Kaum hatte Irod, der Räuberhauptmann, das schöne Tier entdeckt, befahl er seinen Männern: "Da ist er, heftet euch an seine Hufe, lasst ihn nicht aus den Augen, jagt ihn in einen Hinterhalt, ich gebe ihn zum Abschuss frei, wer ihn erlegt, bekommt eine ganze Hirschkeule für sich allein, das goldene Geweih aber bekommt meine Räuberschatzkammer. Heißa, mir nach!"

Der Hirsch hatte Witterung bekommen und spürte die tödliche Gefahr. Schnell wie der Pfeil lief er los, gefolgt von den grölenden, Fangseile schwingenden Räubern, deren wilde Pferde schnaubten und wieherten. Und so preschte der Hirsch durch den Wald, dicht gefolgt von dem wilden, johlenden Reitertrupp. Der ganze Wald geriet in aufgeregten Aufruhr; erschrocken und verängstigt huschte das Eichhörnchen in ein Astloch, der Igel versteckte sich in einem Berg von Laub, die Vögel stoben in die Lüfte, Fuchs und Hase verschwanden im Bau und selbst die brummigen Bären machten sich davon.

In der Gegend gab es ein Dörfchen. Hier lebte die verarmte Witwe Jedokija mit ihren beiden Zwillingsmädchen Maschenka und Daschenka, ihrem Sohn Kirill und dem uralten Großvater. Behütet wurde die Familie von dem zottigen Hund Palkan und Wasja, der Kater, sorgte fleißig dafür, dass weder Ratten noch Mäuse an die ohnehin wenigen Vorräte konnten.

Weil Pilzzeit war und es tags zuvor ordentlich geregnet hatte, vermutete die Mutter, dass reichlich Pilze im Wald zu finden wären. Und so gab sie jedem Zwilling ein Körbchen in die Hand und schickte die beiden in den nahen Wald zum Pilzesuchen. Mit ihren roten Kopftüchlein waren die Mädchen niedlich anzusehen und fröhlich hüpften sie durch den Wald. Da hörten sie lautes Pferdegetrappel, das den Waldboden beben ließ.

"Du, Maschenka, was ist das?", fragte Daschenka, nahm das Schwesterchen bei der Hand und zog es hinter einen dicken Baum, von wo sie den Waldweg gut beobachten konnten. "Da rennt der Hirsch mit dem goldenen Geweih! Ich glaube, er läuft um sein Leben! Er wird von den Räubern verfolgt. Die wollen ihn bestimmt töten!", sagte Maschenka ganz erschrocken und ihr war ganz bange. "Sei nicht so besorgt, der Hirsch ist ein Wandertier und zudem der König dieses Waldes, er wird bestimmt entkommen" Komm, lass uns hinter den Farnen weiter nach Steinpilzen suchen", tröstete Daschenka das Schwesterchen. Sie fanden zwar viele Pilze, aber die waren nicht genießbar, und Steinpilze waren nur ganz wenige dabei. "Du, hier sind wir nicht richtig", meinte Daschenka. "Lass uns in das Birkenwäldchen hinter dem Sumpf gehen, ich weiß sicher, dass wir dort ganz viele Steinpilze finden werden, der Boden ist dort einfach besser." "Das hat uns die Mutter aber verboten. Dort lebt doch die Hexe Baba Jaga und es wimmelt nur so von Waldgeistern", sagte Maschenka. "Ach, die Geister kommen doch erst in der Nacht, bis dahin sind wir längst daheim!"

Hand in Hand gingen die zwei ins Birkenwäldchen. Kaum dort angekommen,  wurden sie schon von ein paar Waldgeistern entdeckt, die zum Gefolge der Baba Jaga gehörten. "Hihi", kicherten sie, "zwei kleine Mädchen, schön rund und appetitlich! Da wird sich unsere Gebieterin aber freuen! Komm, wir werden sie tiefer in den Wald locken, damit sie sich verirren, dann hat die Hexe leichtes Spiel!"

Die Waldgeister zauberten einen Steinpilz-Weg. Die Mädchen fanden nun so viele Pilze am Wegesrand, dass sie gar nicht darauf achteten, wohin sie gingen. Erst als ihre beiden Körbe voll bis obenhin waren, schauten sie auf und merkten, dass sie sich verlaufen hatten. Aber bevor sie sich wegen des Rückweges sorgten, entdeckten sie auf einer kleinen Lichtung einen riesengroßen Steinpilz, beinahe so groß wie sie selbst. "Den müssen wir unbedingt noch haben!", rief Daschenka. "Der Pilz ist so groß, davon wird das ganze Dorf satt!"

In der Zwischenzeit aber liefen der böse Chochrik und zwei seiner Waldgeister zur Hexe Baba Jaga und erzählten ihr von den Mädchen im Birkenwald. "Was, in meinem Zauberwald treiben sie sich rum?", schimpfte die Hexe. "Na, das wird den Gören noch leidtun!" Und die Baba Jaga setzte sich in ihren Mörser, treib ihn mit dem Stößel an und verwischte mit den Besen die Spuren. Während sie in ihrem Gefährt durch den Wald sauste, krachten und knirschten die Bäume und wackelten so gefährlich, dass man meinen konnte, sie wollten sich selbst entwurzeln. Die Zwillinge hörten diesen schrecklichen Lärm und auch das Grollen, das das Hexengefährt verursachte, und standen starr vor Angst.

Da fuhr die Hexe vor und packte sich die Mädchen: "Was fällt euch ein, euch an meinem geweihten Königspilz zu vergreifen? Ihr habt ihn ausgerissen und sogar in Stücke geschnitten! Das wird hart bestraft!" "Seit wann ist denn Pilzsammeln verboten?", fragte Maschenka. "Was, jetzt werden sie auch noch frech, die Kröten, diese Bettler, Habenichtse, Satansbraten!", schimpfte die Hexe. Da sagte Daschenka: "Wir haben wirklich nichts Böses getan; den Riesenpilz haben wir nur genommen, weil alle in unserem Dorf so arm sind und da hätte jeder einmal satt zu essen gehabt." "Ach, Mitleid soll ich haben? Ausgerechnet ich! Mir reicht's", schrie Baba Jaga, hob ihre knochigen, knotigen Hände in die Höhe. Fuchtelte wie wild in der Luft her und murmelte:

"Ixen, dixen, Silbernixen,
Rattenschwänze, Mäusedreck,
böse Kinder müssen weg!
Eins und zwei und drei und vier,
aus jeder wird ein Waldestier!"

Und die böse Hexe verwandelte die Mädchen in Rehkitze, packte sie in den Mörser und raste mit ihnen zurück zu ihrem Hexenhaus, wo sie die Rehlein an einem Baum ankettete. "Lang müsst ihr nicht hierbleiben!", krächzte sie. "Denn schon bald landet ihr in meinem Kochtopf!" Da lärmte es gewaltig und die Hexe bekam Besuch vom Räuberhauptmann Irod und seinen wilden Gesellen. "Hast du den Hirsch mit dem goldenen Geweih gesehen, Baba Jaga? Er ist uns heute entkommen, aber morgen fangen wir ihn und murksen ihn ab, das ist gewiss!", fragte Irod. "Nein, ich habe ihn nicht gesehen! Aber wenn ihr ihn fangt, soll's euer Schaden nicht sein, ich zahle euch eine fürstliche Belohnung. Zerstört mir doch dieser Hirsch meine Fallen, macht meine Fangeisen kaputt und spielt sich überall als Wohltäter und Helfer auf. Ich hasse diesen elenden Hirsch! Aber nehmt einen Trunk zur Stärkung - kostet mal meinen Höllenschnäpschen, das hat's in sich und gibt Kraft!" Im nahen Dörfchen machte sich indessen die Witwe Jedokija mit dem Hund Palkan auf den Weg, um ihre Töchter im Wald zu suchen. Ihr Sohn Kirill sollte beim Großvater bleiben, der drückte ihr ein Säckchen in die Hand und sagte: "Das ist eine Hand voll Heimaterde, sie wird dir helfen, wenn du in Not gerätst, Töchterchen." Und die Dorfälteste sagte: "Ich habe dir ein Kullerbrot gebacken, damit du's weißt, das ist ein Zauberbrot!"

Die Mutter wanderte durch den Wald und der Hund schnupperte und schnupperte und fand die Spur der Kinder, die in das Birkenwäldchen führte. Dort lagen die Pilzkörbchen der Mädchen am Wegesrand und die Mutter begann verzweifelt zu schluchzen: "Meine Kinder sind tot, die wilden Tiere haben sie gefressen." "Nein", sagte der Hund, "das musst du nicht denken. Ich rieche, dass sie noch am Leben sind."

Auf einmal kam der Hirsch mit dem goldenen Geweih dahergelaufen. "Hilf mir, die Räuber sind hinter mir her und wollen mich töten", sagte er und verbarg sich hinter einem dichten Gebüsch. Kurz darauf kam der Tross der Räuber und Hauptmann Irod fragte die Mutter: "Ist hier der Hirsch mit dem goldenen Geweih vorbeigekommen?"

"Ja", sagte sie, "das ist er und er ist weiter nach Norden gelaufen."

Nachdem die Räuber in die angegebene Richtung geritten waren, kam der Hirsch zurück zu der Mutter und sprach: "Du hast mir das Leben gerettet, wie kann ich dir das vergelten?" Die Mutter erzählte von ihren Töchtern und dass sie nicht wüsste, was mit ihnen geschehen sei. "Geh zur roten Sonne, vielleicht kann sie dir helfen. Aber nimm von mir diesen Ring und trage ihn am Finger. Wenn Du in Not bist, musst du nur daran drehen." Die Mutter machte sich auf den Weg zur roten Sonne, aber der Weg war weit. Unterwegs setzte sie sich erschöpft hin und seufzte: "Ach, ich weiß nicht, wohin ich laufen soll!"  "Aber ich weiß es!", sagte da ein zartes Stimmchen. Es war das Wunderbrot, das augenblicklich aus dem Tuch hüpfte, in das es eingeschlagen war, und kugelrund wie es war, rollte es über Stock und Stein den Weg voran.

In der Zwischenzeit hatte sich Söhnchen Kirill unbemerkt aus dem Dorf geschlichen und marschierte zusammen mit Kater Wasja  durch den dunklen Wald. Er wollte auf eigene Faust nach seinen Schwestern suchen. Doch die Hexe Baba Jaga roch das Menschenfleisch, streifte ihre Tarnkappe über und fing den armen Jungen ein. "Du suchst wohl deine Schwestern.  Du Dummkopf? Nun, dann werde ich dich zu ihnen bringen!", sagte die Hexe. Der schwarze Rabe  auf ihrer rechten Schulter krächzte und die schwarze Katze auf ihrer linken Schulter fauchte. Da hob Baba Jaga ihre knochigen, knotigen Hände in die Höhe, fuchtelte wie wild in der Luft herum um murmelte:

"Ixen, dixen, Silbernixen,
Rattenschwänze und Mäusedreck,
böse Kinder müssen weg!
Eins, zwei, drei, nock, nock, nock,
nun bist du ein Ziegenbock!"

Und die böse Hexe verwandelte den armen Jungen in ein Zicklein, packte ihn in den Mörser und raste mit ihm zurück zu ihrem Hexenhaus, wo sie ihn zu den Rehlein an den Bäumen kettete.

Der Vollmond verschwand, die rote Sonne war am Himmel zu sehen und ging langsam und glutrot auf. "Das wird heiß! Ich bleibe hier, denn ich bin aus Teig gemacht und habe Sorge, anzubrennen", sagte das Kugelbrot und rollte nicht mehr weiter. "Guten Tag, rote Sonne", sagte die Mutter. "Wie spät ist es denn? Muss ich schon aufstehen? Was ist los?", murmelte die Sonne, die noch schrecklich müde war, und gähnte. "Ach, es ist ein großes Unglück geschehen, meine Zwillinge sind spurlos verschwunden, hast du sie gesehen?" Die Sonne überlegte: "Nein, aber geh auf dem kürzesten Weg zu meinem jüngeren Bruder dem Mond. Vielleicht hat er in der Nacht etwas gesehen."

Als die Mutter zum Mond kam, fragte dieser: "Was führt dich in diese Einöde?"  "Du hältst die ganze Nacht Wache und beleuchtest die Erde. Hast du meine Zwillinge gesehen?"  "Ich bin zwar der Nachtwächter und die Laterne der Welt, aber ich weiß von nichts. Geh zum Wirbelwind, vor ihm kann man sich nicht verstecken, er sieht alles und weiß alles."

Da kam die Mutter zum Wirbelwind der sagt zu ihr: "Du hast aber Mut, was willst du denn in meinem windigen Reich?"  "Man sagt von dir du siehst alles und du weißt alles. Bitte sag mir, wo finde ich meine beiden Mädchen?"  "Meinst du die Zwillinge mit den roten Kopftüchern? Die findest du im Reich der Baba Jaga."

Also machte sich die Mutter auf in den dunklen Zauberwald und kaum hatte sie den betreten, roch die Hexe auch schon das Menschenfleisch. "Ha, jetzt ist die Familie vollständig", kicherte sie, zündete den Wald an und lachte: "Jetzt wirst du geröstet wie eine Erdnuss!" Doch die Mutter erinnerte sich an den Ring, den ihr der Hirsch gab, drehte daran und die wild züngelnden Flammen erstickten. Und weiter lief sie, immer den braven Hund Palkan an ihrer Seite. Da trafen sie auf den Kater Wasja, der erzählte, was Kirill widerfahren war und dass sich jetzt alle drei Kinder in den Fängen der Baba Jaga befanden, die sie verspeisen wollte. "Ich weiß aber, wo die Baba Jaga wohnt, ich führe dich zu ihr!" sagte der Kater und sprang voran.

Doch die Baba Jaga roch, dass die Mutter im Zauberwald war, und fuhr ihr im Mörser entgegen. "Warum bist du nicht verbrannt?", giftete Baba Jaga. "Wo sind meine Kinder?", fragte die Mutter. "Die wirst du nie wiedersehen!", antwortete die Hexe, wirbelte herum, hatte plötzlich ein riesiges Schwert in der Hand und ging auf die Mutter los. Die erinnerte sich aber der Muttererde, die ihr der Großvater gegeben hatte, öffnete das Säckchen und schon zogen Zauberhände ihr eine Rüstung über, gaben ihr ein Schwert in die Hand und verliehen ihr übermenschliche Kräfte. Mit ein paar Schlägen hatte sie  die Hexe entwaffnet, die winselnd zu ihrem Hexenhaus kroch. Doch davor stand Kijuschka, der älteste Waldgeist, und sagte: "Du alte, gemeine Hexe, du hast uns gute Waldgeister lange genug gequält, jetzt wird über dich und deine Geisterschar Gericht gesessen und du wirst dazu verurteilt, mitsamt deinem Hexenhaus im Sumpf zu versinken. Der Sumpfgeist erwartet dich schon!" Und so geschah es, die Hexe wurde im Morast versenkt mitsamt Hexenhaus, bösen Waldgeistern und Räubern. Just in dem Moment, als der Schlamm alles verschlungen hatte, nahmen die Kinder wieder ihre menschliche Gestalt an. Was war das für eine Freude! Von nun an gab es nur noch gute Waldgeister im Wäldchen hinter dem Sumpf und ein jeder konnte kommen und Pilze sammeln - wer wäre da nicht gerne dabei?